In klassischen Verhandlungsprozessen – z.B. unter Beteiligung von Anwälten oder vor Gericht – folgt in der Regel auf einen Austausch der jeweiligen rechtlichen oder auch moralischen Positionen ein Kompromiss auf Grundlage eines Nullsummenspiels, bei dem der Verlust des einen Verhandlungspartners unmittelbar zu einem Gewinn des anderen Verhandlungspartners führt. Die Parteien verhandeln rein distributiv, begrenzt auf den konkreten Konfliktfall und in der Regel beschränkt auf ein konkretes Interesse.
Dieses Nullsummenspiel kann durch den Mediationsprozess zum Nutzen der beteiligten Medianten durch eine eingehende Klärung der hinter den Positionen der Beteiligten liegenden Interessen durchbrochen werden: Je besser es gelingt, die Interessen der Medianten in Bezug auf eine bestimmte Beziehung oder einen Ausschnitt seiner Lebenswelt herauszuarbeiten, desto besser kann es im Rahmen des Verhandlungsprozesses gelingen, den Gesamtnutzen der Beteiligten zu erhöhen und dadurch eine für alle Beteiligten tragfähige Lösungsfindung zu erleichtern. Dies mag das nachfolgende Beispiel veranschaulichen:
Nach einer längeren Phase der Trennung, in der sich die Ehegatten Anna und Boris auseinandergelebt und neu orientiert haben, steht nun die Scheidung sowie die Vermögensauseinandersetzung an. Zum ehelichen Vermögen zählt ein freistehendes 1-Familienhaus, das von Anna bewohnt wird, und ein relativ neues Wohnmobil, das von Boris genutzt wird. Die Kommunikation zwischen Anna und Boris läuft im Wesentlichen nur noch über ihre jeweiligen Rechtsanwälte. Grund sind auch ständige Auseinandersetzungen über den Umgang mit den beiden Kinder (8 und 10 Jahre). Das praktizierte Modell, nach dem die Kinder wochenweise bei einem der Elternteile verbringen, führt zu vielen Reibungsverlusten, zudem sind die Kinder mit dem Modell offensichtlich unzufrieden.
Auch Anna hat die Trennungszeit dazu genutzt, sich weiterzubilden. Sie strebt eine Selbständigkeit als Photographin an und sucht hierzu noch ein Atelier.
Im Rahmen der Mediation stellt sich heraus, dass beide Eltern übereinstimmend festgestellt haben, dass die Kinder sehr schlecht mit dem wöchentlichen Umzug zwischen den Elternteilen zurechtkommen.
Anna und Boris einigen sich am Ende darauf, das Familienheim gemeinsam zu behalten. Das Erdgeschoss des gemeinsamen Hauses soll so umgebaut werden, dass das erste Erdgeschoss als Trainingsraum /Arbeitsraum für Boris genutzt werden kann. Die Wohnung im Obergeschoss soll künftig nach dem Nestmodell für die Kinder genutzt werden: Die Kinder bleiben dauerhaft in der Wohnung, Anna und Boris wohnen jeweils im abwechselnd für eine Woche mit den Kindern im Familienheim, in der anderen Woche in einer angemieteten Wohnung bzw. bei der neuen Partnerin. Anna kann außerdem den neuen Trainingsraum an 2 Wochenenden pro Monat als Atelier nutzen.
Anna und Boris vereinbaren, dass sie getroffene Vereinbarung nach 6 Monaten nochmals gemeinsam mit dem Mediator überprüfen wollen.
In einem Gerichtsverfahren schlägt die Richterin vor, das 1-Familienhaus, das das wesentliche Vermögen ausmacht, zu verkaufen und den Erlös hälftig zu teilen.
Auf Empfehlung eines gemeinsamen Freundes entschließen sich Anna und Boris, die mit dem Vorschlag der Richterin beide nicht zufrieden sind, doch noch zu einer Mediation.
Im Rahmen des Mediationsverfahrens stellt sich heraus, das Boris sich beruflich verändern möchte. Er will sich als Yogalehrer und Coach selbständig machen und sucht hierfür geeignete Räumlichkeiten. Er könnte sich vorstellen, das gemeinsame eheliche Haus umzubauen und im Erdgeschoss einen Übungsraum einzurichten. Im 1. Stock könnte er dann mit seiner neuen Partnerin wohnen.